Prolog
Die Luft ist so kalt, dass jeder Atemzug in den Lungen sticht. Jeder hastige Schritt jagt schneidende Schmerzen in die Brust. Kalter Schweiß steht auf der Stirn, während das Herz qualvoll pumpt, bis zum Hals hinauf schlägt. Trübes Licht mühte sich aus den wenigen Laternen, verzweifelte Leuchtfeuer inmitten der Nacht. Ein verlassener Straßenzug, namenlos. Alte Backsteinhäuser, heruntergekommen und schmutzig. Kaum Helligkeit hinter den Fenstern, dünne Lichtstreifen, die sich aus den Wohnungen stehlen. Verbeulte Blechtonnen neben den Treppenaufgängen, lose Zeitungsseiten im Spiel des Windes. Ein paar Autos am Straßenrand, ausgezehrt wie Kadaver im Leichenschauhaus. In der Ferne das Rauschen der Stadt – verführerisch, vertraut, unerreichbar. Und darüber der Lärm der Verfolger, schwere Stiefel auf rissigem Zement, die sich durch die engen Gassen bewegen, langsam die Schlinge zuziehen. Ein Netz auswerfen, aus dessen Maschen es kein Entrinnen mehr gibt. Die Flucht endet hier, heute Nacht. Alle Hoffnung ist verloren, alle Chancen verspielt, alles Glück aufgebraucht – wenn von alledem überhaupt je etwas da war.Taumelnd geht es vorwärts, gegen die Wand gestützt, einen Fuß vor den anderen. Der Wille ist noch nicht ganz gebrochen. Ein letztes Aufbäumen, ein letztes Mal die Spitze der Welt sehen.
Dann ist da Musik, ganz sachte und leise schiebt sie sich zwischen Kälte und Angst. Ein Lied, das da durch geschlossene Türen dringt. Ein bisschen Abschied darin, ein langer Abschied. Vom Leben, von der Liebe, von der Erfüllung der Träume. Sie spielten dieses Lied. Damals, irgendwann in einer Vergangenheit, die dem Hier und jetzt so völlig fremd ist. Es gibt kein Zurück und die Erinnerung bedeutet Schmerz. Aber der ist das Einzige, was noch geblieben ist. Also der Musik folgen. Auf das Licht zu, das durch die Tür der kleinen Bar dringt. Ein Loch, das vor Schmutz starrt und in dem höchsten gebrochene Seelen ihr Ende finden, direkt neben einem miesen kleinen Hotel und einem ausgebrannten Pornokino. Der Name auf dem Metallschild über dem Eingang schon seit langem verblasst.Warum nicht hier? Es kann hier genauso Enden wie in der Gosse. Beim ewig gleichen Song, dem einzigen, den die Jukebox spielen kann. Innen steht der Rauch unter der Decke, Schweißgeruch mischt sich mit billigem Aftershave. An den zerkratzten Tischen sitzt jedermann, die Augen leer, das Bier schal. Ihre Träume vertrocknen ebenso wie die feuchten Ringe ihrer Gläser. Fabrikarbeiter, Angestellte, ein paar abgewrackte Diebe. Ein Hocker an der Theke ist frei, direkt neben der ausgelaugten Hure, die deinen Trübsinn für ein paar Scheine lindern kann. Und den Mund mit den schlechten Zähnen hält, wenn ein Drink drin ist. Straight, ohne Eis. Für dich dasselbe.
Da sitzt du und starrst vor dich hin. Der Alkohol brennt in der Kehle, will aber nicht so recht wirken. Und alles kommt zurück, wie es das an solchen Orten immer tut. Vielleicht ist es der Blick in den Spiegel hinter der Bar. Auf das eingefallene Gesicht, das vor langer Zeit ganz anders ausgesehen hat. Oder das Lied aus der Jukebox, das sich in dein Hirn frisst und alles mit schmerzhaften Erinnerungen vernebelt. Lass es das Parfüm der Nutte sein, das den Hals vor Wehmut zuschnürt. Die verständnisvolle Miene des Barkeepers, der sein Geld damit verdient, dass sich welche wie du bei ihm auskotzen.
Vielleicht war es sogar genau hier, wo alles anfing … Egal. Es kommt alles wieder. Die Vergangenheit lässt dich nicht in Ruhe. Irgendeine Kleinigkeit reißt dich zurück. Deine Gedanken driften fort. Bilder steigen auf. Du fängst an zu reden. Zu dir selbst, zum Barmann, zur Nutte, die Mitleid mit dir hat. Es muss raus …
Appointment with Danger
Als nach dem Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen Blockade von amerikanischen Kulturgütern, Hollywood-Filme in die europäischen Kinos kamen, fiel dem französischen Filmkritiker Nino Frank ein Gemeinsamkeit in einer bestimmten Art von Filmen auf. Kriminalmelodramen, Thriller, Detektiv- und Gangsterfilme der vergangenen Jahre wiesen einen düsteren, pessimistischen Unterton auf. Untermalt von hartem Schwarzweißkontrast, ungewöhnlichen Kameraperspektiven und Schattenspielen, tauchte der Film noir auf der Bildfläche auf. In seiner Art eine Abkehr von der vergnüglichen Welt des Hollywoodkinos, griff er die Kriegsangst, die Vereinsamung in den Großstädten, die Korruption des Systems und die Schwäche der menschliche Natur auf. Die Film verfügten selten über ein Happy End, waren keine klassischen Detektivgeschichten a la Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie mehr. Sie waren Melodramen, Gangster- oder Detektivgeschichten, die in ihrer Kompromisslosigkeit wenig Gutes an der Welt ließen. Ihre Protagonisten gerieten durch Zufall in die gnadenlosen Mühlen eines tödlichen Spiels, oder – weit häufiger – durch ihre eigene Entscheidung, sich den Schatten anzuschließen – Überfälle, Betrug und Mord. Manchmal waren sie auf der Seite des Gesetzes, nicht selten jenseits davon und zum letztendlichen Scheitern verurteilt.
Mit dieser Verquickung einzelner Genres entzog und entzieht sich der Film noir bis heute einer klaren Definition und Katalogisierung. Ist er ein eigenständiges Genre, wie der Western oder Gangsterfilm? Oder ist er eine Stilrichtung mit seinen wiederkehrenden Motiven und visuellem Stil?
Journey Into Fear
Seinen Rahmen findet der klassische Film noir in der Zeit von 1941 bis 1958 – John Hustons The Maltese Falcon und Boris Ingsters Stranger on the Third Floor trugen das erste Mal die Wesenszüge des Film noir erkennbar in sich, während Billy Wilders Double Indemnity (1944) in Stil und Inhalt einer Initialzündung gleichkam. Das Publikum war bereit für dunkle Filme, die in all der Kriegsangst einen harten und realistischen Blick auf die Welt boten. Die Kinos wurden überschwemmt mit zweitklassigen Kriminalfilmen, nur gelegentlich durchbrochen von einer Hochglanzproduktion. Die Helden auf der Leinwand waren zynische Privatdetektive und raue Polizisten, die bald von Antihelden durchdrungen wurden – verbrauchte Kriegsheimkehrer, korrumpierte Normalbürger, Gangster und Killer. Sie alle zeigten die Kehrseite des amerikanischen Traums – die Anonymität und Grausamkeit der Großstädte, die Gnadenlosigkeit des Systems. Sie alle hatten sich bereits durch den Roman noir und die Pulp-Literatur in das Bewusstsein der amerikanischen Bevölkerung gefräst – nicht selten basierten die Filme auf Romanvorlagen von Chandler, Hammett, Cain, Woolrich oder Goodis.
Deadly is the Female
Der Film noir war (und ist) ein sehr männlicher Ableger der Filmkunst. Seine Helden waren oft harte Kerle, die sich in einer von Krieg und Wirtschaftslage veränderten Gesellschaft behaupten mussten. Nicht selten waren sie – wie auch die männlichen Zuschauer – Kriegsveteranen, die nach ihrer Rückkehr weder Arbeit noch Anerkennung in ihrem Land fanden. Stattdessen mussten sie feststellen, dass die Frauen den Platz am Herd verlassen hatten, um in Büros und Fabriken Geld zu verdienen. Im Film noir kanalisierte sich das in der Femme fatale, jener manipulierenden, männerverschlingenden und mordenden Klischeefigur, die sich mit allen Mitteln gegen ihre männlichen Kontrahenten behauptete (und am Ende ein dementsprechendes findet). Ihr Gegenstück – die gute Freundin, Sekretärin oder Geliebte des Helden – versank beinahe in der Bedeutungslosigkeit. Die Unabhängigkeit der Femme fatale war eine stete Bedrohung für den Mann auf der Leinwand.
Nightfall
Neben den literarischen Wurzeln und dem gesellschaftlichen Klima waren es vor allem die Macher der Filme, die der Dunkelheit auf der Leinwand zu neuen Tiefen verhalfen. Aus Europa ausgewanderte Regisseure, Kameraleute, Musiker, Bühnenbildner und Schauspieler drückten dem Film noir bewusst oder unbewusst ihren Stempel auf – eine Vermischung von deutschem Expressionismus und den Kriegserlebnissen. Persönlichkeiten wie Fritz Lang, Robert Siodmak, Billy Wilder, Otto Preminger oder Edgar G. Ulmer gaben dem Film noir und seinen Schatten Gestalt.
Intermezzo
Wieder hier. Weißt du, dass du schon tot bist, als du deine Geschichte erzählst? Es ist nur geborgte Zeit. Die Uhr läuft ab. Du solltest dich zusammenreißen und das Wesentliche herauspressen. Die anderen hören dir jetzt zu. Dein Leid ist größer als ihres, das gefällt ihnen. Sie wollen dein Versagen aufsaugen. Es lässt sie aus ihrer trüben Existenz ausbrechen, wenigstens ein bisschen. Erwarte nur kein wirkliches Mitgefühl.
Wie war das noch gleich? Warst du das Unschuldslamm, dem der Strick um den Hals gelegt wurde? Du verstehst schon – so wirklich unschuldig? Soll es geben, ja. Aber das glaubst du doch selbst nicht, oder? Du hast immer eine Wahl. An einem Punkt kannst du immer fortgehen. Aber du wolltest es nicht … konntest es nicht.
Das Geld war es nicht. Nicht nur. Es war nur Mittel zum Zweck. Du brauchtest es für … SIE. Nenne es Liebe, nenne es Obsession. In dem Augenblick, als SIE auf der Bühne erschien, war alles entschieden. Als hättest du bis zu diesem Moment nicht gelebt. Oder nur für diesen Moment. Aber sie gehörte einem anderen / träumte von Freiheit / verlangte nach Reichtum / sprach von wahrer Liebe. Vielleicht auch noch alles zusammen.
Als du den Blick nicht von ihr genommen hast (nicht nehmen konntest – schon klar), hast du den Hals selbst in die Schlinge gelegt.
Du Kannst den Strick bereits spüren, er kratzt und schneidet ins Fleisch. Hilft nichts, wenn du die Krawatte lockerst. Hilft nichts, wenn du ein weiteres Glas herunterspülst. Du bist tot und du weißt es. Du hast es schon seit langem gewusst.
The Naked City
Oft spielte sich das Geschehen eines Film noir in urbanen Schauplätzen ab – die Stadt wirkte nicht selten wie ein heimlicher Protagonist. Regennasse Straßenzüge, flackernde Reklametafeln, Hochhäuser, Hafengegenden, Slums, Boxhallen, Hotels, Lagerhäuser, Gefängniszellen – eine labyrinthische, klaustrophobische Geographie, die die Unruhe und Verzweiflung des Antihelden widerspiegelte.
Out of the Past
Voice-over-Erzählung, Rückblenden, aufgelöste Chronologie, Point-of-view-Shot, surreale Traumsequenzen – der Erzählstil des Film noir hob sich nicht selten in Anspruch und Darreichung von Hollywoods Durchschnittsware ab. Die Rückblende war oft der Einstieg in die Handlung und führte den Zuschauer aus ihr in die filmische Gegenwart und damit zumeist zu einer Erklärung für die desolate Situation des Helden – Ulmers Detour (1945), Dmytryks Murder, My Sweet (1944), Matés D.O.A. (1950). Walter Neff aus Double Indemnity sprach seine letzten Worte auf Band. In Wilders Sunset Boulevard (1950) war es ein Toter, der seine Geschichte erzählt. Robert Montgomery wagte sich in Lady in the Lake (1947) an einen frühen Versuch von subjektiver Kamera rein aus der Sicht des Helden Philip Marlowe.
They Live By Night
Nicht nur die Nacht war allgegenwärtig im Film noir, auch ihre Geschwister, die Schatten. Low-Key-Beleuchtung fabrizierte harte Lichtkontraste, symbolträchtige Schattenwürfe eine Vorahnung für den Untergang der Figuren (Jalousienschatten glichen Gitterstäben, zum Beispiel in Wilders Double Indemnity). Verbunden mit der Kameraarbeit von Meistern wie John Alton, Nicholas Musuraca oder Stanley Cortez und ungewöhnlichen Kameraeinstellungen – CloseUps, Frosch- oder Vogelperspektive – brannte sich der Stil des Film noir auf die Leinwand.
I Wake Up Screaming
Das Ende des klassischen Film noir wurde durch mehrere Faktoren herbeigeführt. Zum einen mit der Verbreitung des Farbfilms, auch wenn es im Noir-Reigen ein paar bunte Ausbrecher gab (Hitchcocks Vertigo (1958), Hathaways Niagara (1953) oder Stahls Leave Her to Heaven (1945)). Wer konnte schon noir sein in einem Technicolor …
Dann war es die beruhigte gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation – in den 50ern fand die Frau wieder an den heimischen Herd zurück, der Krieg wurde kalt und seine visuelle Verarbeitung fand er zunehmend in Science Fiction- und Horrorfilmen (die Bedrohung aus dem All, etc.).
Und schließlich das Fernsehen, dass dem Kino den Rang ablief – leichte Unterhaltung ins Wohnzimmer gebracht.
Kiss Tomorrow Goodbye
Auch nach seiner klassischen Phase lebte der Film noir fort – gelegentlich noch in Schwarzweiß (Sam Fullers Shock Corridor (1963) und The Naked Kiss (1964) oder J. Lee Thompsons Cape Fear (1962), später in Farbe (The Killers (1964)).
Ab den Siebzigern schließlich bewusster und selbstreflektiver – Altmans The Long Goodbye (1974) und Polanskis Chinatown (1974), während später Regisseure wie David Lynch (Blue Velvet (1986), Mulholland Drive (2001)) oder die Coen-Brüder (Fargo (1996), The Man Who Wasn’t There (2001)) ihren eigenen Umgang mit dem Erbe des Film noir fanden. Diese Filme werden zumeist mit dem Begriff Neo-Noir umschrieben.
Epilog
Es ist verdammt still hier, wie in einem Grab. Sogar die Musik ist verstummt. Der Barmann reibt noch immer die gleiche Stelle der Theke blank. Die Hure ist eingeschlafen und schnarcht mit offenem Mund. Deine Augen brennen, der Geschmack auf der Zunge muss dem des Putzlappens ähneln. Du bist am Ende. Nicht nur deiner Geschichte.
Wie viele Drinks waren es? Auch egal, sie kommen nicht gegen das Gift an, das in deinem Körper wütet.
Als die Tür geöffnet wird, ist es beinahe eine Erlösung. Du drehst dich nicht um. Hebst nicht einmal den Blick von deinem schmutzigen Glas. Das Warten hat ein Ende.
Sind es die Bullen, die dich abholen? Der Galgen ist bereits aufgebaut, der Stuhl vorgewärmt. Verständnis oder Hilfe kannst du von ihnen nicht erwarten. Nicht mehr. Vielleicht lassen sie dich abhauen, draußen auf der Straße. Wenn niemand hinsieht. Aber nur, um dem Steuerzahler Geld zu sparen. Eine Leiche muss nicht erst verhandelt werden.
Und wenn es nicht die Cops sind? Spricht einiges dafür, dass es ein paar Killer sind. Wenn du Glück hast, welche von der sadistischen Sorte, die dich nicht gleich niederschießen. Von wem sie kommen? Dem Ehemann, dem du die Frau ausgespannt hast. Dem Gangster, in dessen Geschäft du dich eingemischt hast. Der Buchmacher, bei dem du bis zum Hals in der Kreide stehst. Ein paar ehemalige Partner, die du beim letzten Bruch hast hängen lassen. Die Liste ist lang. Trinke darauf, dass das Sterben dafür kurz wird.
Aber dann … wenn es SIE ist? Wenn SIE nun zurückgekommen ist? Wenn SIE es doch ernst gemeint hat? Wenn ihre Liebesbezeugungen nicht nur leere Hülsen waren? Wenn SIE nur mit der Kohle abgehauen ist, um dich später zu holen? Wenn … ja, wenn … Das alles spielt keine Rolle. Hauptsache, SIE ist wieder da. Bleibt bei dir. Dann war es das alles wert. All die schlechten Dinge, die du getan hast. All das Lügen, Betrügen und Verletzen.
Vielleicht bist du innerlich bereits gestorben, aber SIE könnte Tote zum Leben erwecken.
Also drehst du dich zu ihr um. Lächelst. Was macht es schon, wenn ihre Hand in der Tasche einen Revolver umklammert? Was macht es schon, wenn SIE nur hier ist, um dich nach draußen zu locken? Wenn du neben ihr stehst, sie umarmst, dann ist es wieder fast so wie damals … damals …