Der Noir-Roman ist derjenige Teil der new classics, der die Straße beobachtet. Seine Aufgabe besteht darin, einen Zeitungsartikel auf der Verbrechensseite zu der Tragödie auszuweiten, die sich dahinter verbirgt; Gewalt. Elend und Verzweiflung zu erforschen, das Niedrigste zu analysieren, all das, was wirklich schrecklich falsch ist an der Art, wie wir leben.

Derek Raymond, Die verdeckten Dateien

Bloße Kriminalgeschichten mit dunkleren, brutaleren Zügen? Oder doch mehr? Ein Spiegelbild der Massengesellschaft, des zügellosen Individualismus, der gnadenlosen Bürokratiemaschinerie und alptraumhaften Industrialisierung?

“Ich wollte es töten, ja. Doch es wäre mir vorgekommen, als würde ich die Hoffnung selbst töten, aber ein wenig davon muss es doch geben auf dieser Welt, selbst für Leute wie mich?”

Ray Bradbury, Der Tod ist ein einsames Geschäft

In der amerikanischen Tradition ist der Roman noir ein Subgenre der hard-boiled school, gekennzeichnet durch einen Protagonisten, der direkt im Zusammenhang mit einem Verbrechen steht – als Opfer, Verdächtiger oder Täter. Das Vergehen kann gleichwohl gegen die Gesellschaft oder die eigene Person gerichtet sein.
In der französischen Tradition werden auch jene Romane mit einbezogen, in denen Dritte zu einem Verbrechen hinzukommen (Privatdetektive, Polizisten, etc.).
Die Übergänge sind fließend, nicht alles ist noir. Oft finden sich Fragmente dieser Stilrichtung, auch wenn ein Roman selbst nicht noir genannt wird.
Noir-Literatur (auch dark suspense, black novels, novella negra) hat ihre Ursprünge in den gothic novels, in den Urvätern Edgar Allen Poe und Sir Arthur Conan Dolye, erwuchs aus Chandlers und Hammetts hard-boiled-Stil, aus den pulp-Magazinen und formte sich in Schriftstellern wie James M. Cain, David Goodis, Jim Thompson oder Mickey Spillane.
Der Roman noir konfrontiert den Leser mit einem: der Angst.
Sie ist eine düstere Mischung aus Randexistenz, (sexuellen) Obsessionen, Hoffnungslosigkeit und Furcht.

Sie ließ mich vorbei und schlug die Tür gegen das Tageslicht zu. Der Raum roch nach Wein und kaltem Zigarettenrauch, alten Apfelsinenschalen und dem Schlaf der Frau und einem Parfüm, das ich nicht kannte, Erbsünde vielleicht.

Ross Macdonald, Der Fall Galton

Im Gegensatz zu klassischen Detektivgeschichten, in denen mit oftmals emotionaler Distanziertheit gearbeitet wird, katapultiert der Noir-Roman den Leser mitten hinein ins Geschehen. Hinein in eine brutale, inhumane Welt.

Ich verpaßte ihr einen linken Haken, zog durch und traf sie von rechts. Ich gab ihr nur die beiden Schwinger – links und rechts. Blitzschnell. Traf sie von einer Seite, dann von der anderen. So konnte sie nicht umfallen. Dann ließ ich sie zu Boden sinken, mit dem Rücken gegen den Treppenaufgang; und ihr Genick sah zehn Zentimeter länger aus. Und ihr Kopf schwang wie ein Kürbiskopf auf der Ranke. Ob ich sie umgebracht habe? Was denken Sie denn?

Jim Thompson, Ein Satansweib

Haben die Helden der hard-boiled-Strömung noch die Möglichkeit zu überleben, fallen sie im Roman noir der (Selbst)Vernichtung anheim.

Im Noir-Roman fällt die Menschheit in einer Bar oder in der Dunkelheit dem Wahnsinn anheim. Er schildert Männer und Frauen, deren Lebensumstände sie zu weit getrieben haben, Menschen, deren Dasein verbogen und entstellt ist. Er befaßt sich mit der Frage, wie ein kleiner, erschrockener Kampf mit sich selbst zu einem viel größeren Kampf ausgeweitet werden kann – den universellen Kampf gegen den allgemeinverbindlichen Vertrag, dessen Bedingungen sich nicht erfüllen lassen, ein Kampf, bei dem die Niederlage sicher ist. Nachdem die Religion an Ansehen verloren hat, ist der Noir-Roman ein erneuter Versuch, die enstandene Lücke auszufüllen, indem er offen schildert, was die Menschen zum Schreien bringt, und das ist der Grund, warum ich nichts mit der geschäftsmäßigen Seite der Schundromanindustrie oder den Mittelklasse-Ergüssen alter Damen zu tun haben will, die immer mit einem Auge auf den Kontostand produzieren. Der Noir-Roman hat mit beidem nichts zu schaffen. Sein Ziel besteht darin, Menschen dem miesen psychischen Wetter vor ihrer Haustür auszusetzen, wo alles und jeder von einem erbarmungslosen Regen aufgeweicht worden ist, der sich aus den Seelen der Menschen dort draußen ergießt. Es gibt ihn, damit Menschen begreifen, was Verzweiflung – die kleinen, dunklen Räume der Existenz, in denen alle Ausgänge vergittert, zugemauert sind – wirklich ist.

Derek Raymond, Die verdeckten Dateien

Der Roman noir ist mehr als bloße Kriminalgeschichte. Er zeigt die dunklen Seiten des Lebens in einer Gesellschaft, die uns vertraut ist, hinter deren Fassade jedoch die schlimmsten Abgründe lauern.

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