In den Straßen New Yorks kann das Leben für Jugendliche die Hölle sein. Missbrauch, Gewalt, Armut, Obdachlosigkeit, Drogen – mit einem Wort: eine niederschmetternde Hoffnungslosigkeit. Es gibt viel, dass das Herz eines Ausreißers begehrt – ein bisschen Geborgenheit, Essen, Respekt, eine schützende Hand, … Freundschaft. Wenn also einer wie aus dem Nichts daherkommt, und einen Weg aus dem Leiden verspricht, wer würde da nicht folgen? Vor allem, wenn derjenige kämpfen kann wie ein Ninja und Feinde reihenweise niedermetzelt. Wenn er ein Lachen hat, das einen zum Mitlachen zwingt. Wen er das Leben locker und leicht nimmt, weil es für ihn nur ein einziges Spiel ist. So einen gibt es und er heißt … Peter (das Pan hat er irgendwo liegengelassen). Wen er rettet, dem bietet er an, ihn in eine Welt zu führen, in der man niemals alt werden muss. In der die Regeln der Erwachsenen nicht zählen. In der das größte aller Abenteuer wartet!
Auf geht es also, immer dem Peter nach. Durch einen gefahrvollen Nebel ins magische Reich Avalon. Das leider im Sterben liegt und zwar ein großes Abenteuer breit hält, der Preis dafür aber ungemein hoch ist: das eigene Leben. Wer dachte, es sei das weich gezeichnete Disyney-Nimmerland, der hat sich aber gewaltig an Hooks Säbel geschnitten.
Kommentar
Wie wird aus einem klassischen Kinderbuch Stoff für einen Erwachsenenroman? Im ersten Durchgang von Broms Kinderdieb drängen sich da zwei Punkte auf: Überbordende Gewalt und deftige Umgangssprache. Von beidem hat es auf 600 Seiten reichlich.
Da wird gemordet, verstümmelt und gefoltert – Blut spritzt, Körperteile fliegen und Gedärme quellen heraus. Das wird stellenweise so viel, dass es die eigentliche Magie der Geschichte völlig überlagert. Die blitzt in den Rückblenden auf, in denen die letzten, leuchtenden Tage der Insel gezeigt werden. Die ist, wie schon erwähnt, nicht das abenteuererfüllte Nimmerland, sondern das aus der Artus-Sage bekannte Avalon. Inklusive der Dame vom See und anderer Vertreter der keltischen Mythologie, samt höfischer Intrigen. Das rückt auch die Figur des Peter in den Kreis der Sagengestalten, aus dem unbedarften Jungen, der nicht erwachsen werden will, wird ein dunkler Held. Aus seinen verwegenen Kämpfen mit Kapitän Hook und seiner Band eine gnadenlose Schlacht um die Rettung Avalons. Verluste auf beiden Seiten treten in rauen Mengen auf. Für den besessenen Peter reine Kollateralschäden.
Broms Ansatz, Peter Pan von der verkitschten, romantisierten Schiene einer Disney-Adaption auf einen mit dunklen Untertönen gespickten Weg zu schicken, und aus ihm wieder den gefahrvernarrten, manchmal grausamen Verweigerer jedweder Verantwortung zu machen, ist sicherlich ein willkommener Gegenentwurf zur Flutwelle schwülstiger, weich gekochter (Vampir-) Jugendromane. Der Kinderdieb erinnert dabei stellenweise mehr an Goldings Herr der Fliegen, als an die gewohnte Peter Pan-Geschichte.
Natürlich darf auch Broms eigentliche Berufung nicht fehlen und so wird jedes Kapitel von einem Artwork angeführt, gekrönt durch Farbtafeln der Hauptfiguren. Die sind, ohne Zweifel, ausgezeichnet. Auf seiner Website kann man sich einen Eindruck davon verschaffen.
Dies & Das
– Broms Protagonisten sind zumeist vierzehnjährige Abkömmlinge der amerikanischen Unterschicht – an mehreren Stellen beschreibt er die Welt um sie herum allerdings mit Begrifflichkeiten, die ein Jugendlicher mit diesem Hintergrund vermutlich noch nie gehört hat (Höllenhunde der Gestapo, etc.).
– Barries Romanvorlage stammt aus dem Jahr 1911 (Peter and Wendy), die Figur des niemals erwachsen werdenden Peter Pans tauchte erstmals in der Geschichte The Little White Bird (1902) auf, aus der 1904 ein sehr erfolgreiches Bühnenstück wurde.
– In Barries Roman zahlt Peter einen hohen Preis für seine Jugend – er vergisst all jene Dinge, die sich ändern. In Broms Auslegung fehlt diese Tragik. Peter vergisst die Namen seiner verlorenen Kinder zwar, aber dies ist dem Zauber Avalons zuzuschreiben.
– Eine weitaus gelungenere und dabei ebenso dunkle Adaption eines Jugendbuchklassikers gelang American McGee mit seinem Computerspiel Alice. Als Third Person-Shooter ist auch hier die Gewalt allgegenwärtig, aber dafür fächern sich das Wunderland und seine Charaktere weitaus skurriler und komplexer auf.
Fazit
Wem die Vampirromane zum Hals raushängen, wer es reichlich blutig mag und einer Verquickung von Barries Peter Pan-Story und der Avalon-Mythologie nicht abgeneigt ist, wird mit Der Kinderdieb sicherlich seinen Spaß haben.
Fakten
Der Kinderdieb
Originaltitel: The Child Thief, 2009
Brom
Peter Pan, Adaption