Ex-Bulle Mitch Tobin stabilisiert sein seelisches Gleichgewicht, indem er den Hinterhof seines Hauses mit einer hohen Backsteinmauer umgibt. Stein auf Stein. Immer höher. Viel mehr hat er nicht zu tun, sehr zum Leidwesen seiner Frau und seines Sohnes. Als der Psychiater Dr. Cameron auftaucht und mit einem heiklen Auftrag winkt, willigt Tobin vor allem aus Liebe zu seiner Familie ein. Cameron ist Leiter des Midway-Sanatoriums, indem Patienten nach einem geschlossenen Anstaltsaufenthalt sich einige Monate auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereiten können. Und im Midway ereignen sich seit einigen Wochen seltsame Unfälle, bei denen einige der Patienten schwer zu Schaden gekommen sind. Statt sich aber mit der örtlichen Polizei und negativer Presse für das Midway einzulassen, will Cameron Mitch für den Job. Tobin soll als Patient einchecken und undercover ermitteln. Keine allzu leichte Aufgabe. Denn in einem ganzen Haus voller Verrückter, fällt ein normales Verbrechen kaum auf. Zudem merkt Tobin schon bald, dass er selbst nicht ganz so weit vom wirklichen Patientenstatus weg ist. Denn der Tod seines früheren Partners macht ihm auch Jahre später noch schwer zu schaffen. Im Midway ist eben keiner ohne Schuld.
Kommentar
Tucker Coe war eines der Pseudonyme von Donald Westlake, der zwischen 1966 und 1972 insgesamt fünf Romane um den desillusionierten Ex-Polizisten Mitch Tobin verfasste. Ein gelungener und interessanter Gegenentwurf zu seinem skrupellosen Gangster Parker – denn Mitch lebt mit der Schuld eines einzigen, schweren Fehlers, den er sich selbst nicht verzeihen kann. Satt auf Streife gewesen zu sein, lag er mit einer fremden Frau im Bett und prompt starb sein Partner in einer Schießerei. Tobin wurde aus dem Polizeidienst entlassen und lebt seitdem von Gelegenheitsjobs als unlizensierter Privatdetektiv. Aber während sich der Rest der Welt weiterdreht und gerade seine Frau ihm verziehen hat, existiert Tobin nur für seine Mauer im Garten. Die baut er als Schutz vor der Außenwelt und jeder Stein wird mehr und mehr zur Obsession.
Eine solch gebrochene Figur ausgerechnet in eine offene Anstalt voller (geheilter) Verrückter zu schicken, gibt der ansonsten eher geradlinigen Geschichte den nötigen Kniff, um sie spannend zu machen. Nicht wegen der Jagd auf den Verbrecher, sondern wegen Tobins innerer Zerrissenheit, seinem Hadern mit der Welt und sich selbst im Speziellen. Therapien, Psychologen, verlorene Seelen – Tobin würde gut ins Midway passen. Denn da fährt Westlake eine illustre, wenn auch recht klischeehafte Patientengruppe auf. Ein ehemaliger Amokläufer, ein Alkoholiker, eine Nymphomanin, einen Kinderschänder, eine Depressive, eine Lesbierin und ein paar mehr. Man hinterfrage lieber nicht, warum ausgerechnet diese zum Teil sehr labilen Personen alle in einer Anstalt stranden, aber immerhin galten sie offiziell als geheilt, auch wenn daran schnell Zweifel kommen können. Die Konstellation jedenfalls gibt allen Grund zur Beunruhigung und die Frage ist lange Zeit, bei wem als erstes die Sicherung durchbrennt (Tobin eingeschlossen). Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt zudem das Midway selbst – ein verschachtelter, unübersichtlicher Bau, in dem niemand so recht den Überblick behalten oder sich zurecht finden kann. Im Endeffekt ein Sinnbild für den Geisteszustand seiner Bewohner, inklusive dunklem Geheimnis.
Fazit
Die klischeehafte Darstellung einzelner Patienten ist tatsächlich nicht mehr sonderlich zeitgemäß und lässt einen ein paar Mal die Stirn in Falten legen. Aber da sie nur eine Bühne für Tobins inneren Konflikt, seine erdrückenden Schuldgefühle und seine Obsession sind, funktionieren sie dennoch. Der Wachsapfel bietet eine einigermaßen akzeptable Kriminalgeschichte, doch vor allem einen tiefen Einblick in eine interessante Romanfigur – Mitch Tobin, den zerrütteten Ex-Bullen.
Fakten
Der Wachsapfel
Originaltitel: Wax Apple, 1970
Tucker Coe / Donald E. Westlake