Queens, 13. März 1964: Um 3.15 Uhr stellt die 28-jährige Kitty Genovese, die von ihrer Schicht als Kellnerin nach Hause kommt, ihren Wagen in der Nähe ihres Apartments ab. Als sie aus dem Auto steigt, nähert sich ihr ein Mann. Dieser Mann ist Winston Moseley, der mit seiner Frau und zwei Kindern ebenfalls in Queens lebt. Winston Moseley arbeitet als Bürokraft, hat – keine Schulden, ist nicht vorbestraft und bisher nie auffällig geworden. Trotzdem erregt etwas an der Art, wie er sich Kitty Genovese nähert, deren Misstrauen. Sie versucht, eine Notrufsäule zu erreichen, wird jedoch von Moseley eingeholt und auf offener Straße niedergestochen. Über einen Zeitraum von einer halben Stunde wird Kitty Genovese von Winston Moseley vergewaltigt, schwer verletzt und am Ende ermordet während mindestens 38 Zeugen ihre Schreie hören und aus erleuchteten Fenstern heraus das Geschehen beobachten.
Kommentar
Durch den Zeitungsartikel Thirty-Eight Who Saw Murder Didn’t Call the Police des Journalisten Martin Gansberg, veröffentlicht zwei Wochen nach dem brutalen Mord an der Kellnerin Kitty Genovese, ebbte eine Woge der Fassungslosigkeit und des Entsetzens durch die Vereinigten Staaten – wie emotionslos konnte ein Mensch sein, wenn unter seinen Augen ein Mord geschah? Schlimmer noch, wie konnte dieses Phänomen der Teilnahmslosigkeit ganze achtunddreißig Zeugen erfassen? Der Begriff Genovese-Syndrom (oder Bystander-Effekt) wurde geprägt – das Phänomen, dass Augenzeugen eines Verbrechens oder Unfalls eher Hilfeleistung unterlassen, wenn weitere Zeugen anwesend sind (siehe Wikipedia). Eine weitere Dimension des Grauens, wenn man sich von Schriftsteller Decoin den Tod der Kitty Genovese auffächern lässt. Gansbergs Eröffnung überdramatisiert jedoch das Verhalten der beinahe vierzig Zeugen, denn die wenigstens von ihnen konnten das Geschehen korrekt einschätzen und keiner von ihnen das komplette Verbrechen überschauen. Zudem scheint es auch Verfehlungen bei der damaligen Polizeidienststelle gegeben zu haben (siehe ebenfalls Wikipedia).
Weitaus bedrückender ist die subjektive Betrachtung der Ereignisse – ein Blick in die Abgründe eines Serienmörders, der mit einer schockierenden Dreistigkeit, Kaltblütigkeit und Brutalität nicht nur Kitty, sondern zwei weitere Frauen tötete. Der, laut psychologischen Gutachten, nekrophile Moseley war nach außen ein kleiner Büroangestellter, verheiratet, mit zwei Kindern, der keinerlei Mitleid für seine Opfer oder Reue für seine Taten zeigte. Denn irgendwo in ihm lauerte der Tod. Und Decoin lässt ihn heraus. Mit einer Nähe, die stellenweise zwangsläufig an Truman Capotes Kaltblüig erinnert, wird der Leser in das beklemmende Beziehungsgeflecht von Mordopfer, Killer und Zeugen gezogen. Das erreicht phasenweise eine Intensität, die es schwer macht, umzublättern. Und entwickelt gleichzeitig einen hypnotischen Sog, in diese Abgründe zu schauen. Der Leser wird zwischen Abscheu und Fassungslosigkeit förmlich zerrieben, denn bei all dem Grauen schwebt die lastende Frage über allem: Hätte ich anders gehandelt, wenn ich einer der Zeugen gewesen wäre?
Fazit
Fakten
Der Tod der Kitty Genovese
Originaltitel: Est-ce ainsi que les femmes meurent?, 2009
Didier Decoin
True Crime