Ex-Polizist Scottie Ferguson (James Stewart) leidet an Höhenangst, nachdem er mitansehen musste, wie ein Kollege in den Tod stürzte. Auf Drängen seines alten Freundes Gavin Elster, übernimmt er die Aufgabe, dessen schöne Ehefrau Madeline Elster (Kim Novak) zu observieren. Madeline scheint von einem Geist aus der Vergangenheit besessen zu sein, der sie in den Selbstmord zu treiben droht. Scottie und Madeline verlieben sich, doch er kann ihren Tod nicht verhindern.
Als er nach seinem Aufenthalt in einem Sanatorium der Verkäuferin Judy begegnet, die seiner verstorbenen Liebe sehr ähnelt, beginnt er damit, sie in ein Ebenbild von Madeline zu verwandeln, um schließlich erkennen zu müssen, dass er nur eine Figur in einem skrupellosen Mordplan war …
Kommentar
Hitchcocks Meisterwerk bietet jedoch noch eine andere Interpretation der Geschichte: Viele Teile der Handlung geschehen nicht real, sondern sind ein Traum von Scottie, der damit versucht, seine Schuldkomplexe los zu werden – er fühlt sich für den Tod eines Kollegen und der Frau, die er liebte, verantwortlich und konstruiert sich eine Kriminalgeschichte, um die Schuld von sich zu weisen.
Im Film selbst gibt es eine Menge Hinweise, die diese Interpretation untermauern. Seltsame Sequenzen, die eigentlich keinen Sinn ergeben, traumhafte Szenen und die geisterhafte Erscheinung der Hauptdarstellerin.
So folgt Scottie Madeline in ein Hotel, nur um dann festzustellen, dass sie nicht dort war, ihr Zimmer leer ist.
Der Gerichtsprozess zu Madelines Tod findet in der selben Mission statt, von deren Kirchturm die Frau in den Tod stürzte und der Richter weist übertrieben deutlich auf Scotties Verfehlungen hin.
Als die zu Madeline verwandelte Judy aus Scotties Badezimmer tritt, wird sie von einem grünen Schimmer umgeben (Grün ist traditionell die Farbe der Geister). In der darauffolgeden Kussszene verquicken sich Vergangenheit und Gegenwart wie in einem Traum.
Und schließlich die gesamte Mordgeschichte, die sich bei genauerem Betrachten als von zu vielen Zufällen abhängig zeigt, um ein von Galvin Elster konzipierter Mord zu sein.
Oder die geringe Wahrscheinlichkeit, dass Scottie in einer Stadt wie San Francisco gerade der Verkäuferin Judy begegnet. In Bezug zu einem Traum von Scottie aber durchaus passend.
Wie auch immer …
Fazit
Vertigo – Aus dem Reich der Toten ist ein Meilenstein der Filmgeschichte, ein Meisterwerk Hitchcocks. Eine eindringliche Farbgebung, hervorragende Musik und Bilder für die filmische Ewigkeit.
– Spoiler –
Zwischen den “Zeilen” gelesen.
Wie Michael Sellmann in Hollywoods moderner Film noir anführt, deutet schon der Vorspann mit den Spiralen, die sich aus dem Auge der Frau winden, auf eine Störung der Wahrnehmung hin. Vielleicht ein “Achte auf Deine Wahrnehmung, lieber Zuschauer!”? Sie könnten an der Nase herumgeführt werden.
Scottie hängt nach der missglückten Verfolgungsjagd an der Dachrinne und blickt dem Tod ins Auge, in den gerade ein Kollege gestürzt ist. Wie kommt er aus dieser Zwangslage heraus? Im Film wird nichts darüber erwähnt.
Spielt sich gar der gesamte nachfolgende Film nur in der Phantasie Scotties ab, der in Wahrheit in einem Sanatorium sitzt und versucht, seine Schuldkomplexe abzubauen?
Madelines erster Auftritt bei Ernie’s hebt ihre Profilaufnahme durch aufleuchtendes Licht hervor.
Während Scottie Madeline quer durch San Francisco verfolgt, bemerkte sie seinen Wagen, einen breiten Straßenkreuzer, nicht, auch wenn er an der Bucht sogar in nicht allzu großer Entfernung hinter ihr hält.
Natürlich könnte Madeline, die durch Gavin Elster weiß, dass Scottie sie verfolgt, ihn ignorieren. Was ihn aber doch wiederum misstrauisch machen könnte.
Während Scottie Madeline durch San Francisco verfolgt, werden überdeutlich oft seine Augen gezeigt. Ein Hinweis auf seine subjektive oder gestörte Wahrnehmung?
Warum sucht Madeline das Blumengeschäft über einen abweisenden Hintereingang auf?
Scottie sieht Madeline im alten Valdes Haus, nun ein Hotel, verschwinden. Aber als er ihr folgt, ist Madeline niemals dort gewesen.
Wie schon im Vorspann angedeutet, ist wohlmöglich Scotties Wahrnehmung gestört. Er sieht Dinge, die es gar nicht gibt. Oder aber, im entgleitet sein Traum, verselbständigt sich.
Zudem zeigt er der Vermieterin seine Polizeimarke, um Madelines Zimmer zu sehen – diese besitzt er aber nicht mehr, da er den Dienst quittiert hat.
In der Buchhandlung erfährt Scottie die Geschichte von Carlotta Valdes – der Buchhändler, ein Experte auf dem Gebiet der Geschichte San Franciscos, kann sich aber nicht an den Namen von Carlottas Liebhaber erinnern, obwohl er betont, dass dieser ein reicher und mächtiger Mann gewesen sei. Ungewöhnlich für einen Kenner lokaler Geschehnisse.
Wäre alles aber nur ein Traum Scotties, so wäre es nicht ungewöhnlich, dass ihn seine Phantasie in dieser Sache im Stich lässt oder sie einfach nicht bedeutend für den weiteren Verlauf der Ereignisse ist.
Die Gerichtsverhandlung ist eine sehr eigenartige Angelegenheit. Der Richter reitet ungewöhnlich auffällig auf Scotties Verfehlung und Schwäche herum. Zudem sagt er im englischen Original, dass der Polizeichef aus jener großen Stadt im Osten kommt, nicht, dass er aus San Francisco stammt. Untypisch für einen Richter.
Zwar ist Judys Zimmer durch die Hotelreklame konstant in grünes Licht getaucht (traditionell die Farbe der Geister), aber als sie, nun wieder zu Madeline verwandelt, aus dem Bad tritt, umgibt sie ein grüner Schimmer, der weit über das Reklamelicht hinausgeht – ein Zeichen, dass es sich um einen Traum, eine Geistererscheinung, mindestens aber um eine Trübung von Scotties Wahrnehmung handelt? Vielleicht sogar der Wahrnehmung des Zuschauers?
Beim folgenden Kuss wird Scottie in den Stall aus der Mission versetzt. Er schaut sich verwirrt um. Erkennt er bereits, dass er die wahre Madeline in den Armen hält? Oder ist er irritiert, weil ihm sein Traum entgleitet und sich Vergangenheit und Gegenwart vermischen?
Ist es nicht äußerst unwahrscheinlich, dass Judy, die am Mord von Elsters wirklicher Ehefrau beteiligt war, ein Schmuckstück behält, dass Madeline gehörte? Und dass sie auch noch so unvorsichtig ist, es nach ihrer Transformation in Scotties zweite Madline zu tragen?
Judy/Madeline stürzt nach dem Auftauchen der Nonne vom Turm in den Tod. Da sie sich vorher wenig abergläubisch gezeigt hat, ist es verwunderlich, dass sie die Erscheinung der Gestalt dermaßen erschreckt.
Wäre alles aber nur eine Projekt Scotties, so könnte er sich, nachdem er seine Schuldkomplexe gemeistert hat, schließlich auch der letzten Verknüpfung entledigen, indem er Judy/Madeline sterben lässt.
Gavin Elsters Plan ist, für einen Mord, reichlich fragil. Zwar weiß er von Scotties Höhenangst, aber sich darauf zu verlassen, dass er es nicht den Turm hinauf schafft, ist doch reichlich riskant.
Ist Madeline Rechtshänderin? Judy ist auf jeden Fall Linkshänderin. Als Madeline den Blumenstrauß in die Bucht streut, ist es ihre Rechte die führt. An anderer Stelle benutzt sie jedoch wieder die linke Hand.
Twin Peaks
Wie schon zu Premingers Laura (1944), nehmen die Erfinder der Mystery-Serie Twin Peaks mit einem Augenzwinkern Bezug zu ihrem Vorbild Vertigo: Im Verlauf der Serie taucht eine Doppelgängerin der toten Laura Palmer auf, ihre Cousine Madeleine Ferguson, die sich nach Drängen ihrer neuen Freunde in ein Ebenbild der Ermordeten verwandelt – neben der Thematik ist der ihr Name eine offensichtliche Referenz aus Madeleine (Kim Novak) und Scottie Ferguson (James Stewart).
Faith No More
In ihrem Video zu Last Cup Of Sorrow (1997) wird die Vertigo-Story in 4:10 Minuten adaptiert. In der Rolle der Madeline findet man Jennifer Jason Leigh.
Bild-bei-Bild-Analyse auf http://patton.blogdeldia.com/media/1/cupsorrow/lastcup.htm.
Links
Hitchcock’s Vertigo One Viewer’s Viewing, Norman N. Holland
Vertigo: Love, Desire, the Image, and the Grave von Robert Baird bei www.imagesjournal.com
Fakten
Deutscher Titel: Vertigo – Aus dem Reich der Toten
Alternative Titel & Arbeitstitel: From Among the Dead, Illicit Darkening, Listen Darkling
Studio: Paramount
Regisseur: Alfred Hitchcock
Darsteller: James Stewart, Kim Novak, Barbara Bel Geddes
Drehbuch: Alec Copple, Samuel Taylor
Musik: Bernhard Herrmann
Basierend auf: Pierre Boileau & Thomas Narcejacs D’Entre Les Morts